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PATENTÖCHTER



Uraufführung der Bühnenfassung von Mirko Böttcher nach dem Buch Patentöchter von Corinna Ponto und Julia Albrecht




CP: Nach der Landung auf dem Frankfurter Flughafen musste ich zunächst der Polizei Auskunft geben – ein erstes Ausfragen über die Besuche von Susanne Albrecht in den Monaten zuvor, ihre Kleidung, ihr Auto, über die Fragen, die sie mir gestellt hatte, die Länge ihrer Besuche und, und, und.
Bei der Fahrt in den Taunus setzte sich rasch eine starke Morgensonne durch. Zu hell, zu früh.
Es war kein Nach-Hause-Kommen, sondern Ankunft an einem Tatort.
Zu Hause gab es nicht mehr.

JA: Meine Schwester war mit zwei Begleitern da gewesen.

CP: Polizeiautos standen quer.

JA: Sie hatte nicht selbst geschossen, war aber mit den Mördern ins Haus gekommen.

CP: Irgendwo flimmerte ein unermüdliches Blaulicht

JA: Sie, als Familienfreundeskind, hatte den Einlass der Gruppe ins Haus ermöglicht.

CP: Beamte liefen im Haus umher. Begegnete man neuen Gesichtern auf dem Flur, gab es im geschäftigen Lauf ein Innehalten, ein „herzliches Beileid“ mit Händedruck. Ich fühlte mich blass im Vergleich zu all den kräftigen Energien im Haus.



JA: Meine Mutter erzählt mir, ich sei danach stundenlang durchs Wohnzimmer gelaufen…

CP: An den Fensterscheiben im Esszimmer waren Einschusslöcher markiert.

JA: …und hätte gesagt:

CP: Eine 1 und eine 7 klebten am Fenster.

JA: Susanne hat nicht geschossen.

CP: Hier eine 3.

JA: Susanne hat nicht geschossen.

CP: Und die 2 an der Wand.

JA: Susanne hat nicht geschossen.

CP: Dort die 6.

JA: Susanne hat nicht geschossen.

CP: Daneben die 5,

JA: Susanne hat nicht geschossen.

CP: Und hier hinten auf dem Teppich die 4.

JA: Ich habe nur gesagt, was geschehen – oder eben nicht geschehen - war. Denn Susanne hatte nicht geschossen.

CP: Schnell zog ich mich auf mein Zimmer zurück.
Auf meinem Bett lag ein Kuvert, das mein Vater mir für die lang geplante Familienreise nach Südamerika zurechtgelegt hatte. Ich hatte die lange Hinreise unbedingt alleine machen wollen, und deshalb geplant, genau zwei Tage später als meine Eltern loszufahren.
Mein Trotzkopf könnte mir das Leben gerettet haben.
Neben dem Ticket lag noch ein kleiner Brief. Er endete mit den Worten: „Gute Reise, Dein Papi“.

JA: In dieser Nacht schliefen wir drei, meine Eltern und ich, gemeinsam in einem Bett. Das hatten wir noch nie getan.
In meiner kindlichen Logik war es für mich einfacher zu glauben, dass Susanne etwas so Grauenhaftes, so Abgründiges nicht selbstverantwortlich getan haben konnte.
Sie tat mir unendlich leid, und ich dachte, meine Eltern müssten dafür verantwortlich sein.
Die Frage, wann ich sie wieder sehen würde, begleitete mich quasi von der ersten Sekunde an.
Ich trauerte um den Verlust der Schwester, ich hatte panische Angst vor einem weiteren Gewaltverbrechen, dessen Opfer ich sein könnte, ich fühlte mich bloßgestellt meinen Freundinnen und Freunden gegenüber
Ich fühle mich wie nichtexistent, weil ich von diesem Tag an für viele Jahre in den Augen der anderen die Schwester von Susanne war – und nichts anderes.









JA: Ebenso wenig wie wir auf das Desaster von 1977 vorbereitet gewesen waren, waren wir auf Susannes Wiedersehen im Juni 1990 vorbereitet.

CP: Ich stand unter großer Anspannung – es war der Tag der Hauptprobe vor meinem Operndebüt in Smetanas „Die verkaufte Braut“ am Landestheater in Dessau. Nach der Probe schaltete ich auf dem Heimweg das Autoradio ein.
„Ehemalige, lang gesuchte RAF-Terroristin Susanne Albrecht in Berlin Marzahn gefasst.“

JA: Ich lebte bereits seit Jahren in der Potsdamer Strasse in Berlin. Susanne hatte in unmittelbarer Nähe gelebt. Nicht in Jemen, nicht in Libyen: In Marzahn-Ahrensfelde, am nordöstlichen Ende der geteilten Stadt.

CP: Ich hatte Angst – schlichte direkte Angst.

JA: Sie hieß nun Ingrid B., geborene Jäger. Sie war verheiratet und hatte einen Sohn. Ich war Tante!

CP: Der Name, die Geschichte waren aus einem anderen Leben – das Leben lag weit hinter mir. Wie konnte die Geschichte wieder so nah, so extrem nah herankommen?

JA: Ich war euphorisiert davon, dass die Verschwundene wieder da war.
Ich durchblätterte und durchforstete die Zeitungen. Ich las mich satt.

CP: Der mir nur allzu bekannte lähmende Schockzustand war augenblicklich wieder da.

JA: Ich war glücklich.

CP: Ich musste kotzen.

JA: Die 13 Jahre ihrer Abwesenheit waren für uns geprägt von der Hoffnung, dass Susanne – wenn sie wieder auftauchte – eine Geschichte zu erzählen haben würde, die die ungeheure Last ihres Verrats in einem andern Licht erscheinen lassen würde.
Dieses, die Hoffnung nicht aufgeben wollen, hat uns unbewusst gelenkt und geleitet.
Wir erhielten eine Besuchserlaubnis für Ingrid B., nicht für Susanne Albrecht.
Man hieß mich in einem kargen, fensterlosen Raum warten, während meine Mutter ihre verlorene Tochter endlich wieder in die Arme schloss.
Meine Mutter kam zurück und ich ging hinein. Da saß Susanne alleine hinter einem Rahmen, einer Art Durchreiche, an einem Tisch. Es war grauenhaft. Ein Gemisch widerlicher Emotionen hing im Raum, Tränen flossen, man konnte sich nicht normal verhalten. Es waren nicht die fröhlichen Tränen eines
glücklichen Wiederzusammenkommens. Sondern die Tränen der vollkommenen Orientierungslosigkeit.
Wir nahmen uns nicht in die Arme. Das sah der Raum nicht vor. Sie sagte mit ihrer sanften vorsichtigen Stimme: „Hallo Julia.“ Sie sagte, dass sie mich ganz vergessen habe. Dass es ihr Mühe mache, sich daran zu erinnern, dass es mich gab. Dass ich ja so klein gewesen sei. Ich sagte, dass ich immerhin 13 Jahre gewesen sei, als sie verschwand.
Susanne sprach sächsisch. Original sächsisch. Da war nichts Hamburgerisches in ihrer Stimme. Die durch die Kehle gezogenen Worte klangen ganz anders als meine – und schafften eine künstliche und gleichzeitig passende Distanz. Sie erzählte, dass ihre Legende in der DDR keine Schwester vorgesehen habe. Ich verstand, dass ich durch den Rost gefallen war.
Ich dachte an das Fahndungsplakat auf der Litfasssäule: „Hallo Schwesterchen!“
Es war für mich wie ein Tritt in den Magen, dass sie mich vergessen hatte. Es schien mir so ungerecht; als hätte sie ihren Teil eines geheimen Deals nicht eingehalten, wonach wir einander Treue geschworen hatten.

Susanne war wieder da, aber sie hatte ihre eigene Agenda.