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JESSICA, 30.



Nachkritiken, 01.02.2013


Am Schlosstheater Celle inszeniert der junge Regisseur Mirko Böttcher nun die deutsche Erstaufführung einer zweiten Fassung. Hier wird Jessicas Lebenstrip durch die Innenansichten ihrer Mutter Veronika flankiert.
Böttcher interessiert sich für theatrale Konfrontationstherapie, viele seiner Theaterprojekte drehen sich um gesellschaftliche Wunden. In "Jessica, 30.", geht er auf den ersten Blick einen vergnüglich-komödiantischen Weg. Zwei wandelnde Frauenbilder greifen da in die Vollen ihres wenig zufrieden stellenden Lebens – Charaktere, die zwischen Kämpfernatur und Karikatur pendeln. Es wäre leicht gewesen, sich auf die Frust-, Figur- und Fresspointen zu stürzen, die Autorin als intellektuelle Hera Lind zu verkaufen. Stattdessen kreiert der Regisseur aus dem Stück der Diskurs-Wüterin Streeruwitz ein eigenes Genre: die subversive Boulevardkomödie.
Das Private ist hier eindeutig politisch und im wahrsten Sinne greifbar. Ein weißes Podest steht in der Mitte der Turmbühne, einem kleinen Raum, in dem sich Schauspieler und Zuschauer sehr nah sind. Die minimalistische Bühne werden die Frauen im Laufe des Stücks immer weiter in ihre Versatzstücke zerlegen. In beiden Leben wird umgeräumt, Sicherheiten werden aufgegeben, Wahrheiten in Frage gestellt.
Böttcher konzentriert sich dabei konsequent auf seine beiden Schauspielerinnen Julia Malkowski und Katy Karrenbauer, die für das Ausfüllen ihrer Monologe nicht viel mehr haben als Körper und Stimme.
Malkowski und Karrenbauer stellen die Brüche der Figuren, ihre Lächerlichkeit, ihre Abgründe und ihre Stellvertreterinnenrolle aus, ohne papierene Abziehbilder zu schaffen. Um dieses Changieren zwischen Einfühlung und Vorführen geht es – und die Demaskierung einer Sprache zwischen Frauenmagazinsduktus und Work-Life-Balance-Terror. Die Handlung des Ganzen: eher nebensächlich.
"Ich habe einen unterentwickelten Sexdrive!", ruft Jessica verzweifelt, wenn sie sich in Schuluniform auf den Besuch ihres schmierigen Noch-Freunds vorbereitet.
Auch Veronika will sich mit ihrer Abgeklärtheit nicht weiter abfinden und stapft als Berserkerin durch die Szenerie. "Frauen sind die Gefängniswärterinnen ihrer eigenen Gefangenschaft!", speit sie zorneslüstern heraus. Und macht in ihrer schwer atmenden Wut fast vergessen, dass sie das Thema Frauen und Knast jahrzehntelang auf RTL bearbeitet hat.
Die Rolle ist ein echter Glücksfall für Katy Karrenbauer, die hier zeigen darf, wie selbstsicher sie die Stimmungsklaviatur ihrer Figur beherrscht, wie glaubwürdig und gleichzeitig selbstironisch sie den Gegenpart zur mädchenhaften Julia Malkowski spielen kann.
Eine Inszenierung ohne Rollenopfer.



 

Cellesche Zeitung, 04.02.2013


Als deutsche Erstaufführung hatte das Zwei-Personen-Stück jetzt in der Turmbühne des Celler Schlosstheaters eine beeindruckende Premiere. Dabei galt der lange Beifall am Schluss in besonderem Maße den Leistungen von Julia Malkowski als Jessica und Katy Karrenbauer als Mutter, eine Rolle, mit der Marlene Streeruwitz ihren Roman aus Gründen der dramatischen Spannung für die Bühnenfassung erweitert hat. Das erhöht in der unterschiedlichen Sicht der Generationen zwar den Fluss des Geschehens, kann aber die ursprüngliche Roman-Herkunft dennoch nicht ganz verleugnen.
Trotzdem entwickeln die Gedankenmonologe einen besonderen Reiz und bilden eine starke Herausforderung für jede Inszenierung. Im Zusammenwirken mit dem schlicht weißen Podest in der Mitte des Raums (Bühne Anja Kreher) setzt die angenehm zurückhaltende und sehr einfühlsame Regie von Mirko Böttcher punktgenaue Akzente und platziert die Monologe der beiden Frauen aus unterschiedlichen Generationen in hautnahem Kontakt zum Publikum.
Julia Malkowski als Jessica will, wartet, leidet, geht unter und hält sich über Wasser, zweifelt, verzweifelt und hofft. Ihrer Jessica gibt sie auch sprachlich alle Facetten von resignativer Ruhe bis hin zum völlig überzogenen hysterischen Ausbruch. Eine Leistung, die fesselt.
Die bietet ohne Abstriche auch Katy Karrenbauer als Mutter. Aus der gesicherten Distanz einer anderen Generation sieht sie die Lebenssituation ihrer Tochter mit Skepsis und durch gesellschaftliche Normen fremdgesteuert. Karrenbauer weiß um die Kunst der Pause, setzt sie mit Bedacht und sicherem Timing ein, verbindet Herzenswärme mit Distanz und Witz mit Wehmut. Ihre Darstellung hat sprachliche Kraft, ist anrührend und voller erotischer Sehnsucht.