Am Schlosstheater Celle inszeniert der junge Regisseur Mirko
Böttcher nun die deutsche Erstaufführung einer zweiten Fassung. Hier
wird Jessicas Lebenstrip durch die Innenansichten ihrer Mutter
Veronika flankiert.
Böttcher interessiert sich für theatrale Konfrontationstherapie,
viele seiner Theaterprojekte drehen sich um gesellschaftliche
Wunden. In "Jessica, 30.", geht er auf den ersten Blick einen
vergnüglich-komödiantischen Weg. Zwei wandelnde Frauenbilder greifen
da in die Vollen ihres wenig zufrieden stellenden Lebens –
Charaktere, die zwischen Kämpfernatur und Karikatur pendeln. Es wäre
leicht gewesen, sich auf die Frust-, Figur- und Fresspointen zu
stürzen, die Autorin als intellektuelle Hera Lind zu verkaufen.
Stattdessen kreiert der Regisseur aus dem Stück der Diskurs-Wüterin
Streeruwitz ein eigenes Genre: die subversive Boulevardkomödie.
Das Private ist hier eindeutig politisch und im wahrsten Sinne
greifbar. Ein weißes Podest steht in der Mitte der Turmbühne, einem
kleinen Raum, in dem sich Schauspieler und Zuschauer sehr nah sind.
Die minimalistische Bühne werden die Frauen im Laufe des Stücks
immer weiter in ihre Versatzstücke zerlegen. In beiden Leben wird
umgeräumt, Sicherheiten werden aufgegeben, Wahrheiten in Frage
gestellt.
Böttcher konzentriert sich dabei konsequent auf seine beiden
Schauspielerinnen Julia Malkowski und Katy Karrenbauer, die für das
Ausfüllen ihrer Monologe nicht viel mehr haben als Körper und
Stimme.
Malkowski und Karrenbauer stellen die Brüche der Figuren, ihre
Lächerlichkeit, ihre Abgründe und ihre Stellvertreterinnenrolle aus,
ohne papierene Abziehbilder zu schaffen. Um dieses Changieren
zwischen Einfühlung und Vorführen geht es – und die Demaskierung
einer Sprache zwischen Frauenmagazinsduktus und
Work-Life-Balance-Terror. Die Handlung des Ganzen: eher
nebensächlich.
"Ich habe einen unterentwickelten Sexdrive!", ruft Jessica
verzweifelt, wenn sie sich in Schuluniform auf den Besuch ihres
schmierigen Noch-Freunds vorbereitet.
Auch Veronika will sich mit ihrer Abgeklärtheit nicht weiter
abfinden und stapft als Berserkerin durch die Szenerie. "Frauen sind
die Gefängniswärterinnen ihrer eigenen Gefangenschaft!", speit sie
zorneslüstern heraus. Und macht in ihrer schwer atmenden Wut fast
vergessen, dass sie das Thema Frauen und Knast jahrzehntelang auf
RTL bearbeitet hat.
Die Rolle ist ein echter Glücksfall für Katy Karrenbauer, die hier
zeigen darf, wie selbstsicher sie die Stimmungsklaviatur ihrer Figur
beherrscht, wie glaubwürdig und gleichzeitig selbstironisch sie den
Gegenpart zur mädchenhaften Julia Malkowski spielen kann.
Eine Inszenierung ohne Rollenopfer.
Als deutsche Erstaufführung hatte das Zwei-Personen-Stück jetzt in der
Turmbühne des Celler Schlosstheaters eine beeindruckende Premiere.
Dabei galt der lange Beifall am Schluss in besonderem Maße den
Leistungen von Julia Malkowski als Jessica und Katy Karrenbauer als
Mutter, eine Rolle, mit der Marlene Streeruwitz ihren Roman aus
Gründen der dramatischen Spannung für die Bühnenfassung erweitert hat.
Das erhöht in der unterschiedlichen Sicht der Generationen zwar den
Fluss des Geschehens, kann aber die ursprüngliche Roman-Herkunft
dennoch nicht ganz verleugnen.
Trotzdem entwickeln die Gedankenmonologe einen besonderen Reiz und
bilden eine starke Herausforderung für jede Inszenierung. Im
Zusammenwirken mit dem schlicht weißen Podest in der Mitte des Raums
(Bühne Anja Kreher) setzt die angenehm zurückhaltende und sehr
einfühlsame Regie von Mirko Böttcher punktgenaue Akzente und platziert
die Monologe der beiden Frauen aus unterschiedlichen Generationen in
hautnahem Kontakt zum Publikum.
Julia Malkowski als Jessica will, wartet, leidet, geht unter und hält
sich über Wasser, zweifelt, verzweifelt und hofft. Ihrer Jessica gibt
sie auch sprachlich alle Facetten von resignativer Ruhe bis hin zum
völlig überzogenen hysterischen Ausbruch. Eine Leistung, die fesselt.
Die bietet ohne Abstriche auch Katy Karrenbauer als Mutter. Aus der
gesicherten Distanz einer anderen Generation sieht sie die
Lebenssituation ihrer Tochter mit Skepsis und durch gesellschaftliche
Normen fremdgesteuert. Karrenbauer weiß um die Kunst der Pause, setzt
sie mit Bedacht und sicherem Timing ein, verbindet Herzenswärme mit
Distanz und Witz mit Wehmut. Ihre Darstellung hat sprachliche Kraft,
ist anrührend und voller erotischer Sehnsucht.